Was wir von der jüdischen Kultur lernen können

Bei der Suche nach unseren christlichen Wurzeln fallen die christlichen Anleihen bei der jüdischen Kultur ins Auge. Nicht ohne Grund hat Papst Benedikt die Juden bei seinem Besuch in der großen Synagoge in Rom als unsere älteren Brüder bezeichnet. In den beiden Texten bin ich der Frage nachgegangen, was wir von ihnen lernen können. Wir und speziell wir Deutschen beschäftigen uns wenig mit der jüdischen Geschichte, Religion und Kultur und noch weniger mit dem Alltagsleben der heutigen Juden. Man kennt ja keinen oder keine mehr. Es gibt deshalb kaum noch Berührungspunkte im Alltag. Das ist der eine Grund.

Der andere ist eine deutsche Scheu vor allem Jüdischen. Wörter und Begriffe mit einem jüdischen Klang oder Bezug werden im Gespräch tunlichst vermieden. Sie könnten falsch verstanden werden. Man könnte wahlweise als ewig gestriger Antisemit oder als naiver Philosemit, als Antizionist oder als Palästinenserfreund gelten.

Diese Ignoranz Jüdischem gegenüber ist ein Fehler. Er sollte nach und nach überwunden werden und einer positiven Neugier weichen. Denn wir können von der jüdischen Kultur, von der Religion, von der Erziehung, ja vom Alltag Essen und Trinken sehr viel lernen. Wie es überhaupt gut ist, sich mit allen nichtdeutschen Kulturen zu vergleichen und das aufzunehmen, was des Aufnehmens wert, weil besser ist.

Seit einigen Jahren versuche ich im Selbststudium mein Hebräisch wieder etwas aufzupolieren. Zu diesem Behufe habe ich die Jüdische Allgemeine abonniert. Viele wertvolle Anregungen sind aus dieser Zeitung gewonnen.

Als erstes fällt auf, wie viele herausragende Frauen und Männer in Wissenschaft und Kunst mindestens jüdische Wurzeln haben oder Juden sind. In der Musik, der Malerei, der Literatur, im Film und beim Fernsehen sind jüdische Künstler unter den Besten zu finden. Wer musiziert, wer sogar noch Geige spielt wie ich, den überrascht das nicht. Die meisten Weltklassegeiger sind jüdischer Herkunft mit klangvollen Namen wie Milstein, Kremer, Menuhin, Kreisler, Oistrach, um nur die jüngeren zu nennen. Genauso könnte man berühmte Sänger, Pianisten, Dirigenten und Komponisten nennen. Nicht nur in der Musik, auch in der bildenden Kunst findet man hervorragende Vertreter mit jüdischer Herkunft.

Die Leistungen von Wissenschaftlern sind am einfachsten mit Hilfe der Liste der Nobelpreisträger zu messen. Auch diese Liste ziert eine große Zahl von jüdischen Koryphäen. Zu schweigen von den sendungsbewussten Vertretern jüdischen Geistes wie Karl Marx und Jesus Christus, die durch Leben und Werk die ganze Menschheitsgeschichte umgeschrieben haben.  

Diese Leistungen vor Augen kann man nicht anders als zu einem Bewunderer jüdischen Geistes, jüdischen Lebens und jüdischer Geschichte zu werden. Der Bewunderer ist ungefähr aber nicht genau das Gegenteil eines Antisemiten.

An dieser Stelle ein Wort an meine atheistischen und gottesfernen Freunde, deren ich viele habe und die Jesus Christus bestenfalls für einen guten Menschen halten. Nehmen wir einmal in ihrem Sinne an, Jesus sei nicht Gottes Sohn gewesen, sondern nur ein jüdischer Heilsprediger, die es übrigens damals, zu Zeiten Christi häufiger gab. Dann war seine große Marketingleistung gewesen, den jüdischen Monotheismus, der im übrigen keine jüdische Erfindung ist und den es auch bei den Ägyptern gab, für die nichtjüdische Welt fruchtbar zu machen. Er hat den Monotheismus mit Elementen der Nächstenliebe versehen, die offenkundig einem Bedürfnis der damaligen Zeit entsprachen. So hat er mit dem Monotheismus zu einem gewaltigen weltweiten Rollout verholfen. Das ist das Mindeste, was man Jesus Christus - auch ohne Christ zu sein - zugute halten muss.  

Die Krux mit der jüdischen Religion war und ist es bis heute, dass Gottes Bund von Anfang bis heute im Prinzip für die Nachkommen derer galt, die am Sinai mit dabei waren. Das Judentum sieht wegen der Bundesidee keine Missionierung von Nichtjuden vor. Die Konversion zum Judentum ist bis heute schwierig und bei orthodoxen Chassidim überhaupt nicht möglich. Aus der Bundesidee folgt, dass nur Gott selbst seinen Bund auf andere Menschen, gar andere Völker ausdehnen kann.

Die Weisheit  der Tora, der fünf Bücher Mose, für die nichtjüdische Welt fruchtbar zu machen war eine große Leistung des Christentums. Diese Entwicklung war zwangsläufig. Die Welt verlangte nach einem Katalysator, der die besten Stücke aus dem von der christlichen Welt als altes Testament bekannten Teil der Bibel in eine neue Anwendung brachte. Die Tora stand via christliche Heilslehre fortan allen Nichtjuden offen. Die zehn Gebote, der Sabbat als Sonntag und viele rituelle Handlungen wurden von Jesus und den Aposteln in das Christentum übernommen..

Faszinierend im jüdischen Gesetzeswerk ist die Verbindung von religiösen Regeln mit praktischem Lebensnutzen. Bekanntestes Beispiel ist die Beschneidung der Jungen am 8. Tag nach der Geburt. Die Brit Mila ist ein Zeichen des Bundes mit Gott, keine Prophylaxemaßnahme der Gesundheitsvorsorge. Und doch ist die Beschneidung für die Gesundheit in wärmeren Weltgegenden von Vorteil. Ebenso haben die strengen Bestattungsvorschriften gleichzeitig geistige und körperliche Reinheit zum Ziel. Wohlgemerkt alles lange vor der (Neu)Erfindung der Hygiene im 19. (!) Jahrhundert.

Der Schabbat

Von vielen Juden wird der Schabbat, wenn er in strenger Form eingehalten wird, also ohne Feuer, Strom, Handy, Fernsehen, Internet und ohne Hektik als wohltuend und befreiend und als zentrales Element des Judentums beschrieben. Vom Schabbateingang am Freitagabend, wenn die Frauen Kerzen anzünden bis zum Schabbatausgang, wenn man sich eine gute Woche wünscht, wird alles aus dem Tagesablauf verbannt, was die Besinnung auf Gott und das Verhältnis des Menschen zu Gott stört. Wieviel könnten wir Christen am Sonntag gewinnen, wenn wir ohne Geld in der Tasche aus dem Haus gingen, nicht einkaufen, nicht Auto fahren würden usw.  Es wäre gut, wenn sich auch die christlichen Kirchen auf diesen Ursprung des Sonntags neu besinnen würden. Für viele Tübinger wäre schon viel gewonnen, wenn sie Gartenarbeit am Sonntag unterließen, eine inzwischen völlig normal gewordene Sonntagsbeschäftigung. Denn ohne Sonntag gibt’s nur Werktage. Dieser Werbespruch der Kirchen ist nur zu wahr.

 
Die Kaschrut

Es gibt 613 Mizwot (Verhaltensvorschriften), die von Juden einzuhalten sind, davon rund 40 über koscheres Essen. Eine Mizwa bedarf keiner Begründung. Sie wird von Gott gefordert und ihre Einhaltung ist Ausdruck des Gottesgehorsams und der Zugehörigkeit zum Bund mit Gott. Einerseits. Andererseits sind viele Mizwot aus anderen Gründen vernünftig. Es ist vernünftig, kein Schweinefleisch zu essen, weil die erlaubten Fleischarten, von Rind, Ziege, Schaf weniger fett sind. Koscheres Essen soll nach der Tora (z.B. in Exodus, 19,6: Ihr aber sollt mir ein Reich von Priestern und ein heilig Volk sein.) und nach der rabbinischen Lehre das Volk in einem geistigen Sinne rein und heilig halten, also nicht der Gesundheitsvorsorge dienen. Und doch wirkt es so. Ungeachtet der religiösen Motive ist es einfach gesünder, wenig und bewusst zu essen, nach einer Bracha (einem Segensspruch) vor der Mahlzeit. Es ist gesünder, Schweinefleisch und Blutwurst zu meiden. Es ist hygienischer, einmal im Jahr zu Pessach die Küche von Chametz befreien. Es vernünftig,  nur zu den hohen Feiertagen die vorgeschriebenen Mengen und sonst wenig Alkohol zu trinken. Viele Regeln der Kaschrut sichern im Grunde ein geregeltes und gesundes Essen. Rituelles Händewaschen am Morgen und vor dem Essen gehört dazu. 

 Ausbildung und Erziehung

Jüdische Kinder lernen schon sehr früh Hebräisch, manchmal unterwiesen vom eigenen Vater. Hebräisch lesen und sprechen zu können, ist Voraussetzung dafür, an der Barmizwa vorlesen zu können. Hebräisch ist in der Diaspora eine Fremdsprache. Das frühe Erlernen einer fremden Sprache ist von Vorteil für alle weiteren Fremdsprachen, die man sich in der Schulzeit erarbeiten muss.

Ein weiterer Vorteil liegt in der frühen Befassung der Kinder mit den fünf Büchern der Tora, des Pentateuch. Die fünf Mose-Bücher sind nicht nur Geschichtsbücher sondern auch Gesetzeswerke für die bürgerlichen Rechtsbeziehungen, für das Staats- und Strafrecht, das Personenstands- und Kriegsrecht ja für den ganzen Tagesablauf. So sind praktisch alle Ausprägungen des menschlichen Lebens von Religionsgesetzen abgedeckt und der Unterrichtsstoff ist in weiten Teilen reine Kasuistik. Rechtsanwendung ist Exegese und Subsumtion, Vergleich von abstrakten Vorschriften mit Lebenssachverhalten. So schult die Beschäftigung mit der Rechtstechnik schon früh das Abstraktionsvermögen.

 
Kinder in der Familie

Kinder werden in einem geschützten familiären Rahmen erzogen. Besonders gerühmt wird die Erziehungsleistung der “jüdischen Mamme“ und ihre besondere Fürsorge für die Kinder, durch die sie sich von gojischen Müttern unterscheidet. Über die jüdische Mamme, nachgerade ein Archetypus der Mutter gibt es viele liebevolle Berichte der Kinder.  

Zentrale Bedeutung der Schrift, Lernen durch Sprechen

Aus dem Wenigen, was ich über jüdische Schulen gelesen habe, ist mir am eindrücklichsten das Lernen durch Sprechen bzw. gegenseitiges Vorlesen. Das Lernen an jüdischen Schulen scheint demnach von der Erkenntnis geleitet zu sein, dass sich auch die schriftlich niedergelegte Sprache durch aktives Betätigen der Sprechwerkzeuge, also laut vorgelesen am besten einübt. Ich weiß nicht, wie verbreitet das heute noch an den Schulen ist,  aber die Vorteile leuchten ein. Die Schrift wird durch Sprechen zum Leben erweckt. Sprechen erzeugt im Gehirn die eingefahrenen Verbindungen und Wege, die Voraussetzung sind, später druckreif zu „sprudeln“.

Mit stillem Vorsichhinlesen kann man zwar Inhalt und Sinn des Geschriebenen rezipieren und verstehen aber nicht aus dem Stand reproduzieren. Das gelingt nur oder jedenfalls besser, wenn die Sätze als Bausteine im Gehirn vorgekaut, d.h. vorgesprochen worden sind und bereit liegen. So stelle ich mir jedenfalls die Vorteile des laut Vorgelesenen gegenüber der Stillbeschäftigung „Lesen“ vor.

Man sieht, was sich mehr als dreitausend Jahre bewährt hat, ist einer vergleichenden Prüfung wert. Es hat - juristisch gesprochen - die Vermutung der Richtigkeit bei sich und bevor immer neue Konzepte ersonnen und ausprobiert werden, wäre ein Blick in die Vergangenheit auch für die deutsche Gesellschaft sicher nicht verkehrt.